Missverständnis Nummer 1:
Wörter sind Behälter, in denen eine Bedeutung steckt.
Wir möchten unsere Gedanken, Gefühle, Bilder, Ideen mit anderen teilen. Das machen wir, indem wir unsere Sprache gebrauchen und eine wesentliche Einheit unserer Sprache ist das Wort. Intuitiv gehen viele Menschen davon aus, dass jedes Wort eine feste Bedeutung hat. Schließlich kann man ja erklären, was ein Wort bedeutet und wenn man ein Wort nicht kennt, kann man seine Bedeutung in einem Lexikon nachschlagen oder ergooglen. Worin liegt nun also das Problem?

Gut lässt sich das Missverständnis, Wörter trügen eine feste Bedeutung, an einer Reihe von typischen Verwendungen des Verbs gehen illustrieren:
(1) Sie geht durch den Raum.
(2) Ab morgen gehe ich ins Fitnessstudio.
(3) Das geht gar nicht!
(4) „Wie geht´s?“ – „Es geht.“
(5) „Wie geht´s?“ – „Läuft bei mir“
Versucht man zu beschreiben, welche gemeinsame Bedeutung im Verb gehen der Beispiele (1)-(5) steckt, kommt man recht schnell an seine Grenzen. Gehen wir die Beispiele der Reihe nach durch: In (1) drückt gehen eine Fortbewegung aus. In (2) könnte man unter Umständen auch für eine Bewegung argumentieren, sinnvoller aber erscheint die Analyse von gehen als ein Wort, das in dieser Konstruktion eine Absicht oder eine regelmäßig stattfindende Aktivität ausdrückt. In (3) verhält sich die Bedeutung von gehen noch einmal anders als in den Beispielen (1) und (2). Mit der ganzen Satzkonstruktion wird ausgedrückt, dass eine Handlung oder ein Vorgang als unpassend gewertet werden soll. Die Ablehnung steht hier im Vordergrund. Eine leicht negative Bedeutung zeigt sich auch in der Antwort „es geht“ auf die Frage „wie geht’s“ unter Beispiel (4). Geradezu antonymisch zeigt sich das häufig als Synonym zu gehen gebrauchte laufen unter Beispiel (5).
Welche Schlüsse lassen sich aus diesen Beobachtungen ziehen? Ich denke, es ist wichtig, sich als Deutschlehrkraft darüber bewusst zu sein, dass Wörter keine feste, inhärente Bedeutung tragen, sondern die Wortbedeutung ganz stark vom Kontext beeinflusst ist. Der Kontext kann dabei ein sprachlicher Kontext sein, also andere Wörter, Mehrworteinheiten oder Sätze. Die Wortbedeutung kann aber auch durch einen außersprachlichen Kontext beeinflusst sein. So ist die Frage: „Hast du noch Lust auf einen Kaffee?“ um drei Uhr am Tag anders zu verstehen als um drei Uhr nachts 😊
Aus diesen Einsichten über Wörter als wechselhafte Wesen lassen sich unterrichtspraktische Schlüsse ableiten: Es ergibt vor diesem Hintergrund wenig Sinn, Wörter einer Sprache ohne einen entsprechenden sprachlichen oder außersprachlichen Kontext lehren zu wollen. Lernende müssen wissen, in welchem Kontext welches Wort gebraucht wird – oder auch nicht gebräuchlich ist (Zähne putzen vs. Zähne waschen, Gesicht waschen vs. Gesicht putzen). Auch im Deutschunterricht, der sich vorwiegend an Erstsprachler*innen richtet, sollte man das Phänomen beachten: Wie viel Sinn ergibt wohl eine Aufgabe, bei der „abwechslungsreiche“ Wörter oder Satzanfänge ausgewählt werden sollen, ohne die Funktion im jeweiligen Kontext zu thematisieren?