Missverständnis Nummer 2:
Satzglieder und Kasus sind verschiedene Termini für das gleiche Konzept.

Da die Termini „Akkusativ“ oder „Genitiv“ im Deutschunterricht fast ausschließlich im Zusammenhang mit Satzgliedern auftauchen, führt das zu Missverständnis Nummer 2: Satzglieder und Kasus seien lediglich unterschiedliche Labels für letztlich das gleiche Ding. Das stimmt so ganz und gar nicht. Unter Kasus versteht man die formale Markierung nominaler Einheiten, um bestimmte Relationen auszudrücken. Ok, das war ein bisschen fachsprachlich, nochmal neu: Unterschiedliche Sprachen haben unterschiedliche Strategien, wie ihre Sprecher*innen die Beziehung zwischen den Akteuren in einem Satz ausdrücken können. Eine Strategie von Sprachen ist Kasus. Ein Beispiel:
(1) Die Frau schenkt dem Mann ein Lächeln.
(2) Der Mann schenkt der Frau ein Lächeln.
Wer in dieser Szene wem ein Lächeln schenkt und wer das Lächeln bekommt, wird durch die grammatische Kategorie Kasus versprachlicht. Dadurch, dass die Artikel die Kaususmarkierung tragen, ist ersichtlich, wer hier der Flirtende und wer die angeflirtete Person ist – Missverständnisse ausgeschlossen! Im Deutschen wird der Empfänger in einer Handlungssituation meist durch eine Dativmarkierung gekennzeichnet. Das, was übergeben wird, wird durch den Akkusativ markiert. Und der Akteur in der Situation steht im unmarkierten Kasus, dem Nominativ. Andere Sprachen haben komplexere Kasussysteme und drücken Beziehungen, die das Deutsche über Präpositionen ausdrückt, auch über Kasus aus. Das Finnische etwa verfügt über 11 (!) Kasus. Das Englische ist da deutlich sparsamer. Damit Sprachnutzer des Englischen nicht durcheinanderkommen beim Flirten, müssen sie eine strenge Abfolge der Wortgruppen im Satz einhalten. Im Deutschen darf man die Wortgruppe im Akkusativ hingegen auch vor das Verb rücken. Ist ja klar, wer was mit wem macht, Kasus sei Dank!
Kasus ist auch nützlich, um Besitzverhältnisse auszudrücken. Im Deutschen nutzen wir dazu sehr gern Wortgruppen im Genitiv: das Haus der Nachbarn, das Lächeln der Frau, die Krise des Jahrhunderts, …. In all diesen Beispielen handelt es sich nicht um Satzglieder, denn die Wortgruppen im Genitiv hängen nicht am Verb. Sie hängen an einem anderen Nomen. Diese Funktion bezeichnet man als Attribut. Genitivobjekte sind beinahe ausgestorben, aber die Genitivattribute treiben wilde Blüten!
Kasusmarkierungen zeigt das Deutsche auch im Zusammenhang mit Präpositionen. Jede Präposition des Deutschen verlangt nach einem bestimmten Kasus. Man nennt das auch Rektion. Ein Beispiel:
(3) Laut der Dozentin gibt es nichts Schöneres als Kasus.
Bei dem Wörtchen laut handelt es sich nicht etwa um ein Adjektiv, sondern um eine Präposition. Denn dieses Wörtchen laut sorgt dafür, dass die folgende Wortgruppe „die Dozentin“ im Beispiel zu „der Dozentin“ wird. Es zwingt der Wortgruppe den Dativ auf. Viele Präpositionen haben einen bestimmten Kasus, den sie Wortgruppen aufzwingen. Für DaZ-Lerner*innen ist es sehr sinnvoll, diese Information mit der Präposition zusammen zu lernen. Jetzt wird es nochmal verwickelt: Manche Präpositionen können auch verschiedene Kasusmarkierungen fordern. Das sind vor allem solche Präpositionen, die räumliche Verhältnisse beschreiben. Zur Illustration ein neues Beispiel:
(4) Sie läuft in den Wald.
(5) Sie läuft im (in dem) Wald.
Im ersten Beispiel steht die Wortgruppe „der Wald“ im Akkusativ: „den Wald“. Paraphrasieren ließe sich der Satz mit „Sie läuft in den Wald hinein.“ Im zweiten Beispiel hingegen steht die Wortgruppe im Dativ: „im Wald“. Dieser Satz ließe sich durch „Sie läuft im Wald herum“ ersetzen. Man sieht also, dass der Akkusativ das Überschreiten einer fiktiven Grenze ausdrückt. Der Dativ hingegen drückt eine Relation aus, bei dem die Bewegung innerhalb eines bestimmten Bereichs stattfindet.
Wir können also zusammenfassen: Wortgruppen können verschiedene Kasusmarkierungen tragen. Wenn die Wortgruppe vom Verb gefordert wird, bezeichnet man das je nach Grammatiktheorie als Ergänzung/Objekt/Satzglied. Kasus aber muss nicht im Zusammenhang mit Satzgliedern auftreten, sondern begegnet uns an vielen Stellen, um bestimmte Relationen zwischen Akteuren im Satz zu beschreiben.